Der Introvertierten-Ratgeber für laute Wohngemeinschaften
- 15. April 2025
- WG
Wenn man zum ersten Mal eine belebte WG betritt, fühlt es sich an, als würde man eine Bühne betreten, auf der alle anderen das Drehbuch kennen... Mehr lesen
Es ist ein besonderer Abschiedsschmerz, der einen beim Packen des WG-Zimmers überkommt – einer, der die überrascht, die nie in einer WG gelebt haben. Es geht nicht einfach nur um einen Adresswechsel oder einen neuen Schlafplatz. Das Verlassen einer WG fühlt sich oft an wie das Ende einer Ära, ein stilles Sterben jener alltäglichen Vertrautheit, die sich anderswo kaum ersetzen lässt.
Jahrelang waren das die Menschen, die dich in deinen ungeschütztesten Momenten erlebt haben. Sie wussten, in welchen Schrank du automatisch greifst, wenn du Kaffee machtest. Sie erkannten den Unterschied zwischen deinem "müden" Seufzer und deinem "wütenden" Seufzer. Sie konnten ihre Badezimmerbesuche perfekt auf deine Duschzeiten abstimmen, ohne dass ihr jemals darüber gesprochen hättet. Ihr habt mehr geteilt als nur einen Wohnraum – ihr habt die ganz normale, unglamouröse Realität des Alltags geteilt, auf eine Weise, die nicht einmal manche Liebesbeziehungen erreichen.
Dieser Abschiedsschmerz überrascht viele, weil unsere Gesellschaft diesen Verlust nicht anerkennt. Es gibt keine Kondolenzkarten mit "Beileid zum Auszug deines Mitbewohners", keine etablierten Rituale, um das Ende einer Wohngemeinschaft zu betrauern. Doch die Leere trifft einen unerwartet hart – wenn du zum ersten Mal den Kühlschrank öffnest und ihren angefangenen Joghurt nicht mehr siehst. Wenn du spät von der Arbeit kommst und niemand mehr da ist, der nach deinem Tag fragt.
Was WG-Abschiede so besonders macht, ist dieses seltsame Sowohl-als-auch. Anders als nach einer Liebestrennung, wo oft Funkstille herrscht, siehst du diese Menschen vielleicht weiterhin – nur in anderem Kontext. Die Insider-Witze bleiben, aber ohne den gemeinsamen Wohnkontext funktionieren sie plötzlich nicht mehr. Am meisten spürst du ihre Abwesenheit in den kleinen Dingen: Da ist niemand mehr, der das Licht anlässt, wenn du spät nach Hause kommst. Keine spontanen Küchentanzpartys mehr, während der Wasserkocher brodelt. Dieser eine Schrankknarz, über den ihr euch immer lustig gemacht habt – jetzt knarzt er einfach nur noch.
Erst beim Wechsel wird klar, wie sehr dein ganzer Rhythmus an diese Menschen gebunden war. Deine Morgenroutine hatte sich unbewusst mit ihren Abläufen synchronisiert – vom Badezimmer-Timing bis zur Kaffeemaschinen-Nutzung. Deine Wochenendgewohnheiten waren durch ihre Anwesenheit geprägt. Jetzt musst du neu lernen, allein zu leben oder mit Menschen, die noch nicht wissen: Dass du vor dem ersten Kaffee ein Menschheits-Verbot für Smalltalk erlassen hast. Dass der linke Herdplatz dein Herdplatz ist (ungeschriebenes WG-Gesetz, Paragraph 7a). Dass "Kannst du mal..." vor 10 Uhr morgens ein Verbrechen gegen die WG-Menschlichkeit darstellt. Plötzlich merkst du. dass diese kleinen Macken, über die ihr immer gelacht habt, eigentlich die unsichtbaren Fäden waren, die euer Zusammenleben zusammengehalten haben. Und jetzt? Jetzt musst du entweder deine neurotischen Angewohnheiten erklären – oder still leiden, während jemand deine Lieblingspfanne auf dem falschen Herdplatz benutzt. Das wahre Drama beginnt erst nach dem Auszug.
WG-Leben schafft eine stille Vertrautheit, die sich Außenstehenden kaum erklären lässt. Das waren nicht einfach Mitbewohner – das waren Zeugen deiner persönlichen Entwicklung. Sie haben miterlebt: Die Haarschnitt-Desaster und Karriere-Meilensteine. Die fragwürdigen Modephasen und nächtlichen Fressflashs. Die Kunst, dein "Ich-hab-nur-ein-bisschen-was-genommen" Gesicht aufzusetzen, während du heimlich den letzten Joghurt aus dem Gemeinschaftskühlschrank stibitzest. Sie kennen die Version von dir, die selbst deine besten Freunde nie zu sehen bekommen – die morgendliche Vorkaffee-Gremline, die sich samstags um 10 Uhr mit Chipstüten und Netflix im Pyjama vergräbt. Diese Art von Nähe entsteht nicht durch bewusste Entscheidung, sondern durch tausend kleine, ungefilterte Alltagsmomente.
Weiterziehen heißt mehr, als sich an einen neuen Wohnraum zu gewöhnen. Es bedeutet zu akzeptieren, dass diese einzigartige Konstellation von Menschen – dieses besondere Miteinander – so nie wieder existieren wird. Selbst wenn ihr enge Freunde bleibt, verändert sich die Dynamik unweigerlich, wenn ihr nicht mehr gemeinsam klären müsst: Wer eigentlich dran wäre mit Klopapier nachkaufen? Wer schon wieder den Gelben Sack "vergessen" hat? Ob das jetzt der dritte oder vierte Streit übers Spülbecken-Sieb in diesem Monat ist? Plötzlich wird klar: Der Zauber lag gerade in diesen nervigen Kleinigkeiten. In der geteilten Verantwortung für die Katastrophe namens "WG-Bad". In den Augenrollen, wenn schon wieder jemand die Milch leer gemacht hat. Ohne diesen Alltagsfrust fehlt plötzlich auch der Zusammenhalt, der daraus entstand. Ihr bleibt füreinander da – aber nicht mehr füreinander verantwortlich. Und genau das ist der bittersüße Unterschied.
Was den Schmerz lohnenswert macht, ist die Erkenntnis, wie selten und wertvoll diese Art von Verbindung ist. Der Abschiedsschmerz ist der Beweis dafür, wie sehr man zusammen gelebt hat, wie sehr diese Menschen in den ruhigen, unscheinbaren Momenten, die den Großteil unseres Lebens ausmachen, wichtig geworden sind. Es tut weh, weil es eine echte Freundschaft war - nicht die Instagram-Version einer Freundschaft, sondern die, die durch jahrelanges Aushandeln von Duschzeiten und das gemeinsame Überleben kaputter Heizungen entstanden ist.
Wenn es also soweit ist und du deine Kartons packst und die Schlüssel übergibst – gönn dir diesen Abschiedsschmerz. Denn diese Traurigkeit ist nur Liebe in anderer Form: Liebe zu den Menschen, die zu deiner unfreiwillig gewählten Familie wurden. Und zu der Version von dir selbst, die zwischen diesen Wänden mit ihnen gewachsen ist. Die gute Nachricht? Wie bei jedem bedeutenden Abschied wandelt sich der Schmerz irgendwann in Dankbarkeit. Dankbarkeit dafür, etwas erlebt zu haben, das dieses Vermissen wert ist.
Und wer weiß – vielleicht wirst du dich eines Tages in deiner neuen Küche dabei ertappen, wie du dich schon halb umdrehst, um zu fragen, ob sie auch eine Tasse Kaffee wollen. Manche Gewohnheiten – wie manche Verbindungen – bleiben auf wundersame Weise bestehen, lange nachdem der Umzugswagen abgefahren ist.
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